Einführungstext von Barbara Reiter zu
Bremer Arbeit, Haus an der Schlachte,
Langenstrasse 38-42, 3. OG
28195 Bremen
Die Aura, so Walter Benjamin 1936, das Hier und Jetzt, die unbedingte Präsenz ist es, was ein Kunstwerk ausmacht, ihm eine Heiligkeit verleiht und uns unmittelbare Ehrfurcht vor ihm abverlangt.
Wir haben Techniken entwickelt – und das fotografische Abbilden mittels Negativentwicklung war der erste Schritt in dieser Entwicklung – die dem Original und Kunstwerk im eigentlichen Sinn diese seine Aura rauben. Wir müssen nicht nach Paris fahren, um die Mona Lisa in dem kleinen Raum, der neben der Grande Galerie liegt, hinter Trauben von Touristen aus aller Welt zu erspähen. Dank fotografischer, digitaler und reproduktiver Techniken kennen wir alle ihr Lächeln, auch ohne persönlich vor Leonardos Gemälde gestanden zu haben. Wir haben die Welt längst in Pixel zerlegt und können sie mit den entsprechenden Geräten an jedem beliebige Ort erstehen lassen.
Die technische Reproduzierbarkeit nimmt dem Kunstwerk seine Aura und uns als Betrachtern die Möglichkeit, in dieser einzigartigen, auch an einen bestimmten Ort gebundenen Präsenz zu versinken und ein nicht wiederholbares Erlebnis für uns mitzunehmen.
Ein Abklatsch der Erkenntnis, ein Abklatsch der Weisheit, nie selbst ethische, selbst gemachte Erkenntnis, sondern immer nur eine Entschuldigung dafür, dass uns die eigene Erkenntnis fehlt, so beschreibt Susan Sontag 1977 die industrialisierte Bilderwelt der Fotografie.
Das Polaroidbild widersetzt sich dieser Tendenz: es ist sein eigenes Negativ und Positiv zugleich. Es trägt die Möglichkeiten seiner Entwicklung und Entfaltung in sich selbst. In dem kleinen quadratischen Format steckt jedes Motiv, das wir ablichten und darüber hinaus noch viel mehr, wie wir an den Originalen von Michael Rippl sehen können.
Manipulation bedeutet: etwas mit der Hand machen, in etwas eingreifen. Michael Rippl greift in den Prozess der Entwicklung des Polaroids ein. Wie die Reihe der Originale von 2002 bis 2005 zeigt, gibt es viele unterschiedliche Weisen der Manipulation. Von sanften Reiben und Schaben über das Verschieben der Farbschichten gegeneinander, das Frottage-hafte Durchreiben, das Hämmern wie im Original „Bild-Hauerei“von 2004, bis zur Zerstörung der Oberfläche.
Und selbst wenn der Künstler nichts unternimmt, dann entwickelt das Polaroid sich von alleine: eine abstrakte Landschaft setzt sich zusammen aus den Quadraten von sechs abgelaufenen Polaroid-Filmpaketen
(„Von Selbst“).
Michael Rippl geht noch weiter in der Manipulation: die mediale Distanz zum dargestellten Objekt spiegelt sich in unterschiedlichen Weiterverarbeitungen wider. Fotografien werden abfotografiert und während ihrer Entwicklung bearbeitet, wie in der „Springerserie“, der Originale von Andreas Caspari zugrunde liegen oder bei den neuesten Arbeiten in dieser Ausstellung, „Tom Waits“, „Bobfahrer“ und „Jazz“, deren Motive vom Fernseher abfotografiert sind. Die Manipulation beschränkt sich in den neueren Arbeiten nicht mehr auf das manuelle Eingreifen, sondern arbeitet mit dem Einsatz anderer Bildmedien, neuer Formate und Techniken: Bilder werden eingescannt, vergrößert, mit Computerprogrammen bearbeitet und als Ausschnitt vergrößert ausgedruckt, laminiert und beleuchtet.
Der Einsatz moderner Bild- und Reproduktionstechniken erlaubt uns nun, die ursprünglichen Polaroids in größerem Format und in besseren Lichtverhältnissen zu betrachten.
Die Spuren der Manipulation werden nun sichtbar: beim „Tier“ sehen wir die Kratzspuren auf der Polaroidfolie, die Striche des Feuerzeugrückens werden in der Vergrößerung zu Pinselstrichen und verleihen dem Bild malerische Qualität, etwa in „Am Meer“. So wird der Blick frei für „Schemen und Gestalten“ (so der Titel von Michael Rippls erster Einzelausstellung), für Figürliches, Allegorisches („Frau Leben“ und „Herr Tod“) und Landschaftliches („Die Insel Neuwerk“, „5 Ansichten einer Insel“. Die Widerspenstigkeit des Polaroids, das sich der technischen Reproduzierbarkeit seines Objekts widersetzt, bleibt bestehen in der ausdifferenzierten Unmöglichkeit der Sujets: der „Schneeball im Flug“, der „Blick vom Zehner“, das „Öffenbare Fenster“sprechen uns an wie Rätsel. Auf der grammatischen Ebene, auf der visuellen Ebene und in der Hommage an Charles Mingus‘ „I X OUT LOVE“ sogar noch auf der musikalischemotionalen Ebene.
Beim Betrachten der Arbeiten von Michael Rippl geraten wir ins Nachdenken – ist das Tier auf der Einladungskarte wirklich ein Tier oder nicht doch eine Paraphrase der Goyaschen Maya, die auf einem Divan hingegossen liegt? Und gibt es das Wort „öffenbar“ wirklich? Durch die Anwendung verschiedener Reproduktionstechniken hindurch erreichen uns die Fragen. In der Konzentration auf sie überwinden wir für einen Moment den Graben, den die technische Reproduzierbarkeit zwischen uns und das Kunstwerk gerissen hat – gerade in der Thematisierung des Verlustes der Aura durch die Technik gelingen auratische Momente und Erlebnisse – ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen viel Spaß beim Betrachten der Bilder.
24. Februar 2005
Literatur:
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/1955)
Susan Sontag: Über Fotografie (1980), In Platos Höhle
Michael Rippl
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